Da wird diskutiert, referiert, dialogisiert, Bewusstheit geschaffen: Zum neunten Mal findet derzeit (20. bis 25. August 2023) auf Schloss Velthurns in Feldthurns die Summer School Südtirol statt. Sie steht unter dem Motto „Wie Frauen kämpfen, denken, reden, handeln, lieben“. Afghanistan, Belarus, Iran, Polen, Südtirol und Ukraine sind die Schauplätze. Am gestrigen Abend (Dienstag, 22. August) stand Afghanistan im Mittelpunkt. 110 Menschen kamen nach Feldthurns, um der in Deutschland lebenden afghanischen Autorin und Filmemacherin Nahid Shahalimi zuzuhören und ein realistisches Bild der Frauen in Afghanistan zu erhalten.
Nahid Shahalimi wurde 1973 in Afghanistan geboren, floh 1985 mit ihrer Mutter und ihren Schwestern über Pakistan nach Kanada, wo sie unter anderem bildende Kunst und Politik studierte. Seit 2000 lebt sie mit ihren Töchtern in München, wo sie als Künstlerin, Filmemacherin, Aktivistin und Autorin tätig ist. 2017 erschien ihr Buch „Wo Mut die Seele trägt. Wir Frauen in Afghanistan“, für das sie über Jahre in ihr Heimatland reiste, um mit mutigen Frauen über deren Projekte, Ziele und Zukunftswünsche zu sprechen. 2018 erschien ihr preisgekrönter Dokumentarfilm We The Women of Afghanistan: a silent revolution über Frauen in Afghanistan. 2022 gab sie das Buch „Wir sind noch da! Mutuge Frauen Aus Afghanistan“ heraus. Das Buch lässt 13 hochkarätige und couragierte Frauen aus Afghanistan in Textbeiträgen und Interviews zu Wort kommen. Sie schreiben über berufliche und gesellschaftliche Errungenschaften als Programmiererin, Filmemacherin, Politikerin, Journalistin und anderes mehr, sie berichten über die Angst und den Schmerz vor dem drohenden Verlust der Heimat, aber vor allem über das, was die Mädchen und Frauen vor Ort schon jetzt verloren haben: Freiheit, Selbstbestimmung, Lebensfreude.
Es ist fast genau zwei Jahre her, seit die militant-islamistischen Taliban noch vor dem vollständigen Abzug der US-Truppen die Macht in Afghanistan übernommen haben. Es sei finster geworden für die Hälfte der Bevölkerung, sagte die 49-Jährige Nahid Shahalimi am gestrigen Abend bei der Summer School auf Schloss Velthurns in Feldthurns. Frauen werden aus der Öffentlichkeit verbannt, dürfen nicht mehr arbeiten, nicht mehr studieren, das Haus nicht mehr verlassen. Wenn sie es dennoch tun, werden sie geschlagen, gefoltert, entführt, ermordet. Die Taliban verfolgen Frauen und Mädchen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit. Gekoppelt mit politischen Maßnahmen wird ein System der Unterdrückung manifest, das Frauen und Mädchen unterdrückt und ausgrenzt.
Nahid Shahalimi kämpft auf allen politischen Ebenen, unterstützt Frauen in Afghanistan bei verschiedenen Projekten und fordert Europa und die internationale Gemeinschaft auf, den afghanischen Frauen endlich zuzuhören. Frauen müssten unbedingt sichtbarer werden, verlangt die Aktivistin. Das gelte nicht nur für Verhandlungen mit den Taliban, die nur unter der Voraussetzung stattfinden sollten, wenn die Freiheit der Frauen gewahrt wird, das gelte auch für Gesprächen mit internationalen Vertreter:innen, bei denen oft nur Männer am Verhandlungstisch sitzen. Afghanische Mädchen bräuchten weibliche Vorbilder, die sichtbar machen, „dass wir unsere eigene Zukunft bauen, wie wir das wollen“. Frauen in Afghanistan hatten das Wahlrecht schon 1956, 15 Jahre vor der Schweiz. „Damals trugen Mädchen und Frauen in Afghanistan Minirücke, tanzten, studierten, lebten.“ Dem Land ging es in den 1950er- und 1960er-Jahren gut. Beispielsweise wurden mit Deutschland große Bauprojekte realisiert.
Die Taliban traten 1994 in der südlichen Stadt Kandahar erstmals in Erscheinung. Sie übernahmen die Macht in mehreren südlichen und westlichen Provinzen und nahmen schließlich im September 1996 die Hauptstadt Kabul ein. Sie blieben bis 2001, als eine von den USA angeführte Militärkoalition in Afghanistan als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 intervenierte, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Doch der Abzug der NATO-Truppen im Sommer 2021 brachte ein Wende hin zu alten Mustern. Nahid Shahalimi rief die Teilnehmenden der Summer School auf, nicht den politisch gesteuerten Narrativen zu folgen und die afghanischen Frauen nicht als Opfer zu sehen, sondern sie in ihrer Kraft, in ihrem Mut und in ihrem Überlebenswillen zu stärken. Es gelte, den Frauen, die im Ausland für Afghanistan kämpften, Plattform und Sichtbarkeit zu geben. „Hört uns zu!“, plädierte sie wiederholt. Die Proteste von Frauen in Afghanistan würden weitergehen, sagte sie, „auch wenn sie unter Einsatz ihres Lebens auf die Straße gehen“. Der Einsatz afghanischer Frauen im Ausland werde ebenfalls fortgesetzt, auch wenn Aktivistinnen im Ausland ebenfalls bedroht werden.
Belarus, die Ukraine und Polen stehen am heutigen Mittwoch, 23. August im Zentrum. Die Soziologin Sylwia Urbańska berichtet, wie im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine polnische und ukrainische Frauen an den Grenzregionen gemeinsam handeln. Olga Prusak, Autorin und Theatermacherin aus Belarus, berichtet, wie es ist, als Künstlerin und Mutter gegen die Diktatur und für demokratische Rechte zu kämpfen.
Die Widerstandsbewegung im Iran ist das Thema am morgigen Donnerstag, 24. August. Am 16. September 2022 starb in die 22-jährige Jina Mahsa Amini an den Folgen von Polizeigewalt. Sie war festgenommen worden, weil sie das Kopftuch nicht standesgemäß getragen hatte. Seither erschüttern landesweite Protestaktionen gegen die Diktatur das Land. Der in Bozen praktizierende Arzt Mohsen Farsad aus Iran, die in Südtirol lebende iranische Aktivistin Marjan Asgari, eine weitere Iranerin, die nicht genannt werden möchte, und die im deutschen Exil lebende Razieh Aghajari (Lyrikerin, Sängerin, Aktivistin aus Teheran) berichten von ihrer Unterstützung aus dem Ausland.
Auch in Südtirol gab es Protestbewegungen, die hauptsächlich von Frauen angeführt wurden. Die Historikerin Martha Verdorfer stellt das Buch “Die Frauen für Frieden: gegen Aufrüstung und Krieg: Südtirol 1980 bis 1986” vor. Die Aktivistin Ermira Kola berichtet von ihrem Einsatz für obdachlose Frauen, Roma und Sinti, Gefangene und Haftentlassene, für unbegleitete Minderjährige und Antragsteller:innen auf internationalen Schutz.
Mit THE SPEAKERS’ CORNER – here the women speak, bestehend aus einem Feuerwerk von Sprachkunst, Gedanken, Poesie und Theater, endet die diesjährige Summer School am Freitag, 25. August. Der Speakers‘ Corner findet erstmals in der neunjährigen Geschichte statt. Anwärter:innen, Literaturschaffende und Aktivist:innen erzählen ihre Anliegen im Garten des Schlosses Velthurns aus erhöhter Position in Form von Reden, Slam-Poetry-Texten, Raps, Liedern. Wer einen Beitrag leisten möchte, kann sich unter summerschoolsuedtirol@gmail.com anmelden oder spontan auftreten. Es moderiert Lene Morgenstern, Sprachstellerin, Dreh-und Angelpunkt der Slam-Szene in Südtirol. Musik kommt von Razieh Aghajari.
Die Schriftstellerin und Theaterautorin Maxi Obexer hat die Summer School Südtirol 2015 mit dem Ziel gegründet, wichtige Fragen der Gegenwart mit der Öffentlichkeit zu teilen, und dabei die Erfahrungen von Expert:innen aus verschiedenen Bereichen zusammenzuführen. Seit 2015 sind im Zuge der Summer School Südtirol rund 4.000 Menschen nach Feldthurns gekommen. Die öffentlichen Veranstaltungen im Forum, an den Eröffnungsfesten sowie an den Abschluss-Veranstaltungen haben ein ständig wachsendes Publikum angezogen. Alle Interessierten sind zu den abendlichen Veranstaltungen mit Beginn um 18 Uhr eingeladen, eine Anmeldung ist nicht notwendig, Spenden sind erwünscht. Infos: www.summerschoolsuedtirol.eu